Dienstag, 15. Oktober 2013

André Kaminski: Nächstes Jahr in Jerusalem. Roman - Ausschnitt (S. 128-129)

Wenn Juden den Wohnsitz wechseln, haben sie ihre Gründe, und zwar zwingende, denn theoretisch sind sie von einer geradezu religiösen Seßhaftigkeit. Es stimmt Zar, daß sie ein Nomadenvolk sind. Es heißt auch, daß sie rastlos durch die Welt wandern. Das ist ein bekanntes Klischee, aber mit der Erbsubstanz der Juden hat das wenig zu tun. Sie ziehen von einem Ort zum anderen, weil sie gejagt werden, weil man ihnen immer wieder den Boden unter den Füßen heiß macht. Das ist ihr historisches Unglück einerseits, ihre schicksalhafte Chance andererseits. Ob sie es wollen oder nicht. Sie müssen vergleichen. Sie sehen die Welt von hinten und von vorne. Zuerst aus der Perspektive des hoffnungsvoll Ankommenden und dann des enttäuscht Wegreisenden. Sie haben nicht die Zeit, sich an etwas zu gewöhnen - geistig träge zu werden. Sie sind stets auf der Flucht. Man nötigt sie, die Gegenstände aneinander zu messen, abzuwägen. Auch Begriffe und Ideen haben keine Gelegenheit, kalt zu werden und zu erstarren. Immer wieder müssen sie in Frage gestellt werden, denn was an einem Ort richtig war, wird am anderen falsch. Was gestern gut schien, ist heute schlecht. Unsere Wanderschaft zwingt uns zum Nachdenken, unsere Furcht macht uns schlau. Schauen Sie uns einmal genau an! Wir haben eine besondere Art, mit dem Kopf zu wackeln, womit wir ausdrücken, daß man zu einem Problem ja sagen kann und nein. Wir reden mit den Händen. Wir pflegen die Handfläche einmal nach oben zu drehen und einmal nach unten. Dabei ziehen wir die Augenbrauen hoch, als wollten wir sagen, daß es so schlecht und anders auch nicht gut sei.
Ich sagte, wir seien von einer geradezu religiösen Seßhaftigkeit. Damit wollte ich andeuten, daß Bewegung unser Weg und Ruhe unser Ziel ist. Sie wissen vielleicht, daß wir uns beim Abschied hoffnungsvoll zuwünschen: »Nächstes Jahr in Jerusalem!« Damit  bitten wir den Allmächtigen um das Ende unserer qualvollen Reise. Um den Schluß unserer Flucht und die Ankunft im sicheren Hafen der Bewegungslosigkeit. 
Aus: André Kaminski: Nächstes Jahr in Jerusalem. Roman, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, 392 Seiten

Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.

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