Dienstag, 15. Oktober 2013

Steffen Roski: Widersprüche bei Occupy Hamburg




Für AM und MD

Vorbemerkung

Wenn in diesem Text von „Occupy Hamburg“ die Rede ist, so könnte der Eindruck entstehen, es handele sich um eine Bewegung, deren politische Äußerungen stets koordiniert und abgestimmt wären. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Occupy generell und so auch Occupy Hamburg lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Wenn also in diesem Text von „Widersprüchen“ die Rede ist, so handelt es sich damit um gewisse mich irritierende individuelle Meinungen. Dass diese allerdings kollektive Wirkungen zeitigen können, ist gerade das Problem!

Proteste am Bosporus, Aufstände in Chile, Mexiko und Brasilien, restaurative Tendenzen in den Ländern des „Arabischen Frühlings“, eine nominelle „Linke Mehrheit“ nach den Wahlen in der BRD – man könnte geneigt sein, einer Renaissance von Occupy entgegenzusehen. Tatsächlich besteht in Hamburg ein „Protestcamp“, das, folgt man den dort ausgegebenen Verlautbarungen, Teil der globalen Occupy-Bewegung sein will.

Dass Anspruch und Realität gelegentlich auseinanderklaffen, ist nichts Neues. Millionen Konsument_innen können Erfahrungen dieser Art nach dem Besuch von Konsummeilen und Shopping-Malls immer wieder sammeln. Untersuchungen der Konsumforschung zeigen auf, dass ein Kaufakt mit Anspruch auf Glückserfüllung oft schon nach seinem Vollzug den „Post-Decisional Regret“ nach sich zieht. Wenn allerdings selbst gesetzte Ziele und deren Konkretion innerhalb einer sich „kapitalismuskritisch“ gerierenden Bewegung wie „Occupy Hamburg“ meilenweit auseinanderklaffen, sollte dies zu denken geben. Im Folgenden möchte ich aus einer zugegebenermaßen rein subjektiven Perspektive einige Widersprüche bei Occupy Hamburg benennen, um abschließend, im Sinne einer Negation der Negation, dann doch so etwas wie Zukunftsperspektiven aufzeigen zu wollen.

„Occupy ist weder links noch rechts“

Die rhetorische Figur, Occupy sei dem Rechts-Links-Schema enthoben, habe ich während meiner Zeit als Occupy-Campist des Öfteren vernehmen müssen. Ich kann diese Äußerung entweder nur als Ausdruck eines Theoriedefizits oder aber als geschickte Verschleierungsformel für ganz andere politische Absichten lesen. Fangen wir beim Theoriedefizit an. Meine Erwartung an ein Occupy-Protestcamp geht nicht dahin, dass dort Marxeologie betrieben werden sollte. Die Exegese Marxscher oder marxistischer Texte, womöglich angeleitet durch graubärtige alte Herren der so genannten „68er-Bewegung“, ist nun wirklich nicht das, was ich unter einer sinnvollen Form des Theorieimports begreifen mag. Doch gehört zu einer Protesthaltung eben schon eine politische Haltung, die klar und deutlich definiert sein will. Ich nenne mal einige Punkte, die nach meinem Verständnis unbedingt dazugehören sollten:

  • Rassismus und Faschismus sind keine Meinung, keine Denkmöglichkeit – sie stellen ein Verbrechen dar!
  • Gewalt und Macht sind gesellschaftliche Phänomene, die strukturell endemisch sind. Gewalt und Macht äußern sich in konkreten sozialen Feldern, sind als symbolisch und sprachlich vermittelte Dispositive in den Gewalt und macht ausübenden Akteuren körperlich inkorporiert, was an deren Habitus sichtbar ist.
  • Die kapitalistische Akkumulation stellt die elaborierteste Form struktureller Macht und Gewalt dar. Kapitalismus tötet – tagtäglich und in vielerlei Gewand.
  • Der Staat (öffentliche Verwaltung, Parlamente) bezieht sich in seinem Handeln auf die Imperative und Bedürfnisse kapitalistischer Akkumulation, um die Reproduktion kapitalistischer Existenzbedingungen sicherzustellen und weitere Ressourcen anzuhäufen.
  • Das Mediensystem gibt den Verwertungsinteressen des Kapitals bevorzugt Ausdruck (Werbung, Schleichwerbung, Massenbeeinflussung).
  • Konzerne organisieren Meinungs- und Durchsetzungsmacht über die Instrumentalisierung von Stiftungen,Think-Tanks sowie von Lobbyisten und Lobbygruppen.
  • Die Anlalyse gegenwärtiger kapitalistischer Akkumulationsregime sollte ein positives Gesellschaftsbild spiegeln: Eine Gesellschaft der Freien jenseits nationalstaatlicher oder gar nationalistischer Borniertheiten, die sich selbst organisiert mit Menschen, die sich in freier Assoziation in herrschaftsfreie Aktionsräume begeben und dort ein Leben außerhalb der Sphären von Markt und Staat gestalten wollen.

Ja, diese Liste könnte noch länger sein. Sie stellt für mich allerdings sehr konkret ein linkes Projekt dar! Wer von Occupy Hamburg mit dieser Auflistung leben kann, wird schwerlich behaupten können, sich jenseits von Links und Rechts verorten zu können. Occupy ist ein linkes Projekt. Ich jedenfalls verstehe dies so!

Occupy Hamburg und neonazistische Einflüsse

Die Formel „Weder links noch rechts“ dient allerdings manchen Personen bei Occupy Hamburg zur Verschleierung ganz anderer politischer Absichten. Im Camp lagen und liegen dann und wann auch gegenwärtig noch Broschüren aus, in den plakativ für eine „Staatenlosigkeit“ geworben wird. Was steckt dahinter? Nun, die These ist einfach diese, dass die BRD und die ihr nachgeordneten Behörden kein Staat, sondern lediglich ein Netz aus gewerblichen Handelsunternehmungen sei. Nachlesen könne man dies im Internet, wo die BRD mit ihren verschiedenen „Töchtern“ (Behörden, Gerichte etc.) in den einschlägigen Handelsregistern eingetragen sei. Wer einen Personalausweis besitze, sei nun nicht etwa Staatsbürger, sondern viel mehr „Bürge“, eine Angestellte oder ein Angestellter der „BRD GmbH“. Wem ist dann aber die „BRD GmbH“ vertraglich verpflichtet? Die im Camp erteilte Antwort: Da es nach dem Zweiten Weltkrieg keinen regulären Friedensvertrag gegeben habe, sei die „BRD GmbH“ nichts anderes ein Kolonialterritorium der „alliierten Siegermächte“, wir alle also für die alliierte Politik – vor allem wohl für die Politik der USA – Haftende. Man muss noch genauer hinschauen, um das hinter diesen Scheinargumenten steckende Kalkül zu entlarven.

Ich hatte mir die Mühe gemacht und mich auf eine Veranstaltung dieser mit einem „Blauen Punkt“ werbenden Gruppierung begeben. In dem Raum befanden sich gut 50 Leute, darunter solche, die bereits nach erstem Augenschein obskur wirkten. Sehen so NPD-Veranstaltungen aus? Und: Bist du jetzt zum ersten Mal in deinem Leben auf eine Veranstaltung der äußersten Rechten gelandet? Das waren die Fragen, die mich sofort umgetrieben hatten.

Der wohl bewusst verspätet eingetroffene Referent entschuldigte sich mit dem Hinweis, eine Panne gehabt zu haben. Sein Wagen habe einen Ölwechsel benötigt. Und was musste der Nazi-Redner an der Tankstelle zahlen: 10 € für die entsprechende Ölration. Und wer steckt hinter dieser Ölpreispolitik? Natürlich – ich paraphrasiere den Redner: In den USA zu lokalisierende zionistische Geschäftemacher, deren unbarmherzigem Preisdiktat der dumme deutsche Verbraucher hilflos ausgeliefert sei.

Was dann zunächst folgte war das, was ich bereits aus den im Camp von Occupy Hamburg herumliegenden Broschüren entnommen habe. Ein Durchgang durch das Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts von der Gründung des Deutschen Reichs bis in die BRD-Gegenwart mit dem üblichen Basso Continuo: Seit dem Vorabend zum Ersten Weltkrieg sei Deutschland so etwas wie kolonialistischer Annex gewisser in den USA situierter Finanzkapitalisten. Doch die ungeheuerliche Pointe dieses demagogischen Geschwafels sollte noch folgen.

Einem Teilnehmer dieser Veranstaltung fiel eine recht eigenartige Schreibweise des Wortes „Nazi“ auf. In den Publikationen dieser Staatenlosen-Gruppierungen liest sich das Wort nämlich so: „NaZi“. Was es damit auf sich habe, wollte der Fragesteller wissen. Und was dann vom Referenten kam, war derart erschreckend für mich, dass ich mich dazu veranlasst sah, kurz darauf die Veranstaltung zu verlassen. Jeder kennt das John Heartfield-Plakat: Hitler, den obligaten Gruß entrichtend, wird von einem nadelbestreiften Arm ein Bündel Bares in die nach hinten gereckte Hand gesteckt. Der Grafiker wollte aufmerksam machen auf den massiven Sukkurs, den Hitler und die Nazipartei von Seiten des Großkapitals erhalten hatten. Es sollte damit ausgedrückt werden, was der Historiker Eric Hobsbawm einmal so eloquent wie gültig formulierte:
„[Das] wirkliche Großunternehmertum [kommt] mit jeder Art von Regime zurecht, das nicht zu Enteignungsmaßnahmen greift, und […] jedes Regime [muss] mit dem Großunternehmertum zurechtkommen.“

Und was macht dieser verquaste politische Dampfplauderer vom „Blauen Punkt“ daraus: Ja, so paraphrasiere ich, Hitler habe Geld vom Großkapital erhalten, aber - und dies lasse man sich auf der Zunge zergehen, um danach ins nächste Gesträuch zu kotzen – es habe sich eben um „zionistisches“ Kapital gehandelt, der „Führer“ sei somit eine Marionette zionistischer Juden gewesen. Aber es kommt noch dicker: Wenn dies so gewesen sei, dann wäre ja auch – wenn man die Argumentationslogik dieses Verbalschmierfinks zu Ende denkt – der Holocaust, die Shoa, letztendlich nichts anderes als ein Genozid von „NaZis“, die im zionistischen Auftrag nicht-zionistische Juden umgebracht hätten.

Im Klartext: Bei diesen so genannten „Staatenlosen“ handelt es um Holocaustleugner, die dies allerdings so geschickt zu insinuieren wissen, dass ihnen strafrechtlich leider wohl nur schwer beizukommen sein wird.

Was hat all dies nun mit Occupy Hamburg zu tun? Nun, nichts mit der Occupy-Bewegung in Gänze, wohl aber mit einigen Personen, die sich im Camp von Occupy Hamburg festgesetzt haben. Ich vernahm diese Art Rede im Camp von Occupy Hamburg des Öfteren: „Hey, hört doch auf mit diesem deutschen Schuldgerede, das sind irgendwelche linke Einflüsterungen, um Occupy zu spalten. Wir haben doch mit dem, was da in der Vergangenheit passiert war, nichts zu tun.“ - Dies ist kein wörtliches Zitat, gibt aber den Sprachgebrauch einiger Meinungs-„Führer“ angemessen wieder. Und hier liegt denn auch die zweite Bedeutung des Satzes „Occupy ist weder links noch rechts“ verborgen. Ich sprach eingangs von einer geschickten Verschleierungsformel für ganz andere politische Absichten. Ich spreche es klar aus: Es gibt Personen bei Occupy Hamburg, die in subtiler Weise rechte, nazistische Gedanken nicht nur hegen, sondern diese auf sehr geschickte Weise auch im Camp verbreiten.

Zukunftsperspektiven

Welche politischen Chancen hat angesichts dieser Momentaufnahmen das Projekt „Occupy Hamburg“ noch? Ich will nur zwei Punkte nennen:

  • Es reicht nicht, das Hamburger Occupy-Camp als politästhetische „soziale Plastik“ jenseits von Links und Rechts zu begreifen. Nur ein klares Selbstverständnis als aktiver Teil einer dezidiert linken Gegenbewegung zum neoliberalen und kapitalistischen Mainstream wird ein hinreichend geschärftes politisches Bewusstsein schaffen können.
  • Negativ muss daraus folgen: Klare Abgrenzung gegen jedwede rassistische und nazistische Positionen mit der Konsequenz, jene des Camps zu verweisen, die solche Gedanken – wie subtil und verschleiernd auch immer – verbreiten.

Ob eine solche politische Abklärung den im Camp verbliebenen Aktivist_innen gelingen wird, sei dahingestellt. Immerhin habe ich in meiner Zeit im Protestcamp von Occupy Hamburg Menschen kennen, lieben und schätzen gelernt, die über klare und unzweifelhafte politische Standpunkte verfügen. Zwei von ihnen habe ich diesen Text gewidmet. Dass es mehr als nur zwei Hoffnungsträger_innen gibt, ist mir schon klar. Andere allerdings müssten sich ebenfalls dazu aufraffen, sowohl der schleichenden Entpolitisierung wie auch dem Abdriften von Teilen der Hamburger Occupy-Szene nach rechts etwas Wirkungsvolles entgegenzusetzen!


Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Sie sind herzlich zu Kommentaren aufgefordert und eingeladen!